Schon seit meinen ersten Studientagen der Vor-Klinik hat mich die besondere Macht und vielfältige Verflechtung fasziniert, die das autonome, sogenannte vegetative Nervensystem auf uns und unseren Körper ausübt.
Dieses Nervengeflecht durchzieht den ganzen Körper und manifestiert sich anatomisch vor allen in vielen kleinen Nervenknoten beidseits der Wirbelsäule, dem großen Sonnengeflecht (Solar plexus) hinter dem Magen und dem größten Hirnnerven des Menschen (Nervus vagus). Das vegetative Nervensystem ist der Teil unseres Nervensystems, der viele wichtige Funktionen des Körpers selbstständig steuert, ohne dass wir darüber nachdenken müssen. Dazu gehören zum Beispiel die Atmung, die Verdauung, der Herzschlag und der Blutdruck.
Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Teilen, die sich gegenseitig ergänzen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus bereitet den Körper auf Stress oder Gefahr vor, indem er die Leistungsfähigkeit erhöht. Der Parasympathikus sorgt für Entspannung und Erholung, indem er die Körperfunktionen normalisiert.
Wir leben aktuell insgesamt in einer eher den Sympathikus stimulierenden Gesellschaft. Leistung, Höchstleistung, Aktivität und Bereitschaft zur ständigen Auseinandersetzung werden in Beruf, Freizeit und Gesellschaft gefördert. Häufig wird dabei leider vergessen, dass jede Höchstleistung auch eine konsekutive Regeneration fordert und jede Anspannung eine Entspannung, um die körperlichen Systeme andauernd gut am Laufen zu halten.
Der Sympathikus wird in seiner ursprünglichen Bedeutung für den Körper vor allem in Stresssituationen aktiviert und versetzt den Körper in erhöhte Leistungsbereitschaft. Er bewirkt zum Beispiel eine Erhöhung der Herzfrequenz, der Atemfrequenz, des Blutdrucks und der Muskelspannung. Er hat eine wichtige Funktion für das Überleben, da er den Körper auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Allerdings kann eine dauerhafte oder übermäßige Aktivierung des Sympathikus auch zu gesundheitlichen Problemen führen. Zum Beispiel kann eine dauernde Überaktivierung des Sympathikus das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen. Auch Angststörungen, Schlafstörungen, Schmerzen oder Entzündungen können mit einer gestörten Regulation des Sympathikus zusammenhängen. Es ist wichtig, einen Ausgleich zwischen dem Sympathikus und seinem Gegenspieler, dem Parasympathikus, zu finden.
Der Parasympathikus ist der Teil des vegetativen Nervensystems, der vor allem für die Entspannung und Erholung des Körpers zuständig ist. Er hat eine beruhigende Wirkung auf den Körper und fördert die Erholung und Regeneration. Er macht das, indem er die Herzfrequenz, den Blutdruck, die Atmung und die Muskelspannung senkt. Er fördert auch die Verdauung, die Ausscheidung und die Immunabwehr. Er hilft dem Körper, sich von Stress oder Anstrengung zu erholen und die Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Der Parasympathikus ist für die Heilung und Regeneration wichtig, weil er Entzündungen, Schmerzen, Stress und Angst verringert. Er unterstützt auch die Wundheilung, die Zellteilung und die Hormonproduktion.
In über 50 Tausend selbst behandelten Patientenfällen habe ich in den letzten fast 20 Jahren eigener Praxistätigkeit immer wieder erfahren, wie schädlich eine kontinuierliche Überaktivierung des Sympathikus auf Dauer sein kann und wie heilsam und segensreich auch nur kurze parasympathisch geprägte Erholungsphasen den Krankheitsverlauf und das Allgemeinbefinden beeinflussen können. Seit einigen Jahren können wir durch die Bestimmung der Herzratenvariabilität die Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus auch sehr einfach und plakativ in der Praxis messen. Hier bestätigen sich meine Erfahrungen immer wieder eindrucksvoll.
Bei vielen Patienten insbesondere aus dem Bereich der sog. Zivilisationskrankheiten (Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht, Diabetes, metabolisches Syndrom usw.) können wir eine vegetative Regulationsstarre in der sympathischen Überaktivität feststellen.
Da das vegetative Nervensystem autonom, also unabhängig und eigenständig arbeitet, können wir es nicht direkt bewusst, sondern nur indirekt beeinflussen. Die Atmung ist hierbei eine der wichtigsten Verbindungen zwischen dem autonomen Nervensystem und dem Bewusstsein. So kann eine tiefe, langsame und gleichmäßige Atmung den Parasympathikus aktivieren und den Körper entspannen. Eine schnelle, flache und unregelmäßige Atmung kann den Sympathikus aktivieren und den Körper anspannen. Der Parasympathikus wird vor allem durch die Ausatmung aktiviert, die länger sein sollte als die Einatmung. Durch eine tiefe, langsame und gleichmäßige Atmung kann man den Parasympathikus stimulieren und den Sympathikus dämpfen.